Daniil Charms (eig. Juvacov), der wichtigste Vertreter der russischen Kunst wurde am 30.12.1905 in St.Petersburg geboren. Charms gehörte zu den Initiatoren und Hauptmitgliedern der literarischen Gruppe futuristisch-surrealistischer Kunst – Oberiu (Vereinigung der realen Kunst). Einer der Hauptmerkmale dieser literarischen Strömung war die Verzerrung der russischen didaktischen Literaturtradition durch das Prisma der Avantgarde der 20er. Nach einer Oberiu-Veranstaltung im April 1930 wurde diese Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem Leben in der Sowjetunion jedoch praktisch verboten. Charms‘ erste Verhaftung zusammen mit den anderen Oberiu-Mitgliedern erfolgte 1931. Die üblichen Urteile der stalinistischen Richter und Kulturpriester waren: reaktionär, bürgerlich-dekadent, formalistisch, klassenfeindlich…Selbst das Tragen eines nach Fremde klingenden Pseudonyms wurde ihm zum Verhängnis. Die Revolution, die die Avantgarde an die Oberfläche speit, mündet in einer Diktatur und beendet alle künstlerischen Experimente. Nach seiner Verhaftung am 23.8.41 wurde Charms aus der zeitgenössischen Literatur gestrichen. Februar 1942 erleidet Charms einen Hungertod im Gefängniskrankenhaus von Nowosibirsk.
Die Sowjetunion in den 20er/30er Jahren. Die stalinistische Regierung hat den Plan, das Land endgültig von den konterrevolutionären, reaktionären, bourgeoisen Kräften zu säubern. Selbst ein vager Verdacht reicht dem Geheimdienst aus als Begründung für Verhaftung, Folter und Scheinprozess. Der Terror in der Bevölkerung ist enorm, aber unterschwellig, da er außerhalb dessen liegt, was gesagt werden darf. Der optimistische Schein muss gewahrt werden, ebenso wie ein blinder Fortschrittsglaube. Die Frage für die entmenschlichten, in ihrer Angst alleingelassenen Subjekte stellt sich: Wie kann diese immerwährende Gewalt artikuliert werden, welche Form der Kritik ist in einem totalitären System möglich, wenn die alten Formen der kritischen Auseinandersetzung entweder zu direkt sind oder noch vielmehr der neuen Welt, ihren angebotenen Lösungen und nicht artikulierbaren Problemen nichts mehr entgegenzusetzen haben. Die alte große Literatur ist reiner Historismus – schöne, aber leere Hülle, eine erholsame Entschleunigung der Zeit für diejenigen, denen der Lauf der Zeit zu schnell geworden ist. Der neue sozialistische Realismus ist politisch indoktriniert und stimmt Lobgesänge an, während in den Strafkolonien die Eggen die Schuldmuster in die Körper hineinritzen. „In der Zeit des Verrats sind die Landschaften schön“ (Heiner Müller)
Das Schaffen Daniil Charms‘ beantwortet diese Fragen folgendermaßen: wenn die Maschine um das Subjekt herum aus den Fugen gerät, muß auch die Kunst aus den Fugen geraten, wenn sie etwas von ihrem Rattern und Stottern einfangen will. Sie muß selbst rattern und stottern. Wenn die Maschine nicht mehr funktioniert, kann die Literatur keine großen, in sich geschlossenen Erzählungen produzieren, die einen tieferen allegorischen Sinn in sich bergen. Die große Literatur ist tot, es lebe die kleine Literatur. Eine Literatur, die sich dem Weltgeist entzieht, die Subversion betreibt, das klein- und lebendighackt, was im Großen schiefläuft oder erstarrt. Daniil Charms erfindet 20 Jahre vor Beckett und Co. das Absurde und holt die nackte Gewalt auf die Oberfläche. Die Sinnlosigkeit des Terrors ist in seinen kleinen paradox-humorvoll gebrochenen Alltagsprosaepisoden allgegenwärtig, ebenso wie die Ausweglosigkeit. Die Menschen, aus deren Knochen der neue Mensch entstehen soll, werden reihenweise den Mäulern der Maschinengötter Kapitalismus, Faschismus und Sozialismus zugeführt, die in den 30er Jahren zu ihrem todbringenden Triumphzug ansetzen. Daniil Charms stirbt einen kleinen Tod – ein anonymer Körper, der über verhungernde anonyme Körper schreibt, verhungert im Jahr 1942. Erst später, auf den Ruinen von Europa und in der Erinnerung daran, wird er, zusammen mit Kafka und Artaud, klassisch sein.
Das Stück
Nach dem Vermächtnis des Oberiu-Manifestes wird „das dramaturgische Sujet […] nicht vor den Augen des Zuschauers als feste Sujetfigur erscheinen – als ob er hinter dem Rücken der Handlung strahlen würde. Er wird ersetzt durch das Bühnensujet, welches aus sämtlichen Elementen der Aufführung entsteht, die im Prozeß des Spiels zur Entfaltung kommen. Auf dieses Bühnensujet richten wir unsere Aufmerksamkeit. Gleichzeitig besitzen die einzelnen Elemente der Aufführung für uns einen autonomen Eigenwert. Sie führen ein eigenes Dasein, ohne sich dem Ticken des Theatermetronoms unterzuordnen [..] Er ist in seiner Bedeutung selbstständig und bringt zugleich – ungeachtet seines Willens – das Bühnensujet voran. Bühnenbild, die Bewegungen des Akteurs, die hingeworfene Flasche, die Schleife eines Kostüms sind in gleichem Maße Darsteller wie diejenigen, die ihre Köpfe schütteln und verschiedene Wörter und Sätze sprechen“
Ganz im Sinne dieses Manifests wird das Theater Jurakowa Projekt mittels der heute zur Verfügung stehenden theatralischen Ausdrucksmittel die Ideen dieses zunehmend aktueller werdenden Autors in einer neuen Theaterkollage auf die Bühne bringen.
Besetzung | |
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Schauspiel | Stefan Heiner |
Ali Yildiz | |
Norbert Hossner | |
Maxim Werkhowski | |
Andrea Weyer | |
Britta Schwartz | |
Dorothee Köhn | |
Martina Johach | |
Gabi Wollgarten | |
Regina Schütt | |
Pia Dautzenberg | |
Robert Faber | |
Bühnenbild, Plakatillustration, Kostüme | Tatjana Jurakowa |
Bühnentechnik | Waldemar Faber |
Licht | Andreas Mischo |
Tonbearbeitung | Werner Schmidt |
Plakat, Programmheft | Maxim Werkhowski |
Regie | Tatjana Jurakowa |